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Interview mit Albrecht Broemme: Katastrophenschutz und Nationale Sicherheitsstrategie

Der menschengemachte Klimawandel hat in Deutschland zu einer Zunahme der extremen Wetterereignisse mit verheerenden Folgen geführt und das Thema Katastrophenschutz ganz oben auf die Tagesordnung der betroffenen Kommunen und Gemeinden gebracht. Auf Bundesebene wurden innerhalb eines Jahres zwei Strategien zur Inneren Sicherheit abgestimmt und von der Bundesregierung herausgegeben, deren Inhalte allerdings bislang noch nicht ausreichend weiterkommuniziert worden sind. Verwaltung der Zukunft hat Albrecht Broemme zum Begriff der Resilienz im Kontext des Katastrophenschutzes und zur Nationalen Sicherheitsstrategie der Bundesregierung interviewt.

Albrecht Broemme ist Vorstandsvorsitzender des „Zukunftsforums öffentliche Sicherheit (ZOES)“ in Berlin und seit 2022 Fachberater des Landes Berlin für Ukraine-Flüchtlinge. Zuvor war er Projektleiter in Berliner Corona-Teststellen für Reiserückkehrer und Corona-Impfzentren und Berichterstatter „Perspektiven aus Unwettern“ für Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Bayern. Seit 2020 ist Albrecht Broemme Ehrenpräsident des THW. Außerdem war er bis 2020 Mitglied im Beirat für Katastrophenschutz, Brandschutz und Rettungswesen im Deutschen Städtetag und bis 2021 Präsident der Europäischen Feuerwehr-Akademie (EΦA).

Verwaltung der Zukunft: Herr Broemme, was bedeutet eigentlich Resilienz und warum ist sie für den Katastrophenschutz so wichtig?

Broemme: Die Vereinten Nationen beschreiben Resilienz wie folgt: Resilienz beschreibt die Fähigkeit eines Systems, einer Gemeinschaft oder einer Gesellschaft, rechtzeitig und effizient den Auswirkungen einer Gefährdung entgegenzuwirken, sie zu absorbieren, sich an sie anzupassen, sie umzuwandeln und sich von ihnen zu erholen. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist die Erhaltung und Wiederherstellung ihrer wesentlichen Grundstrukturen und Funktionen durch Risikomanagement.

Das lateinische Wort „resilire“ bedeutet „abprallen“ oder (in die ursprüngliche Form) „zurückspringen“. Der Begriff wurde schon länger in der Werkstoffkunde benutzt, im Katastrophenschutz kommt er im Deutschen erst seit etwa 20 Jahren vor.  Wer beim Katastrophenschutz ausschließlich an den Einsatz denkt, übersieht die Wirksamkeit und die Bedeutung der umfangreichen vorbeugenden Maßnahmen. Resilienz betrifft nicht nur den Katastrophenschutz – also die „Blaulicht-Organisationen“ – sondern sämtliche Ressorts und alle Ebenen der Verwaltung, der Wirtschaft.  Und die Gesellschaft muss auch individuell handeln. Resilienz erfordert also Investitionen, um das Ausmaß von Schäden möglichst klein zu halten. Über 30 Milliarden Euro betrugen die Sachschäden, die ein Unwetter am 15. Juli 2022 auf einem Gebiet nach sich zog, das etwa 4 % der Fläche Deutschlands entspricht – ganz zu schweigen von 180 Todesopfern!

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Resilienz betrifft nicht nur den Katastrophenschutz – also die „Blaulicht-Organisationen“ – sondern sämtliche Ressorts und alle Ebenen der Verwaltung, der Wirtschaft.

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VdZ: Innerhalb eines Jahres wurden in Deutschland zwei Strategien zur Inneren Sicherheit veröffentlicht – das „Sendai-Papier“ zur Stärkung der Resilienz gegenüber Katastrophen vom 13. Juli 2022 und die Nationale Sicherheitsstrategie der Bundesrepublik Deutschland vom 14. Juni 2023. Inwiefern unterscheiden und ergänzen sich diese beiden Dokumente?

Broemme: Das „Sendai-Papier“ wurde 2022 federführend vom Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) erarbeitet und umfasst rund 120 Seiten. Der Anlass ist das internationale Sendai-Abkommen, das auch von der Bundesrepublik Deutschland ratifiziert wurde. Die Ziele legen fest, welche Maßnahmen in Deutschland auf welche Art bis zum Jahre 2030 umgesetzt sein sollen. Das Papier zur Außen- und Verteidigungspolitik sowie zur Inneren Sicherheit wurde 2023 federführend vom Auswärtigen Amt (AA) erarbeitet und umfasst rund 75 Seiten. Beide Papiere wurden auf Bundesebene mit allen Ressorts abgestimmt und von der Bundesregierung herausgegeben. Eine Abstimmung mit den wesentlich betroffenen Kommunen, Kreisen und Ländern fand hingegen nicht statt. Auch ist die Verbreitung dieser wichtigen Unterlagen bislang mehr als lückenhaft.

Zum Inhalt des „Sendai-Papiers“:

Handlungsfelder bzw. Handlungsempfehlungen sind:

  1. Das Katastrophenrisiko verstehen
  2. die Institutionen stärken, um das Katastrophenrisiko zu steuern
  3. in die Katastrophenvorsorge investieren, um die Resilienz zu stärken
  4. die Vorbereitung auf den Katastrophenfall verbessern und einen besseren Wiederaufbau ermöglichen
  5. internationale Zusammenarbeit, u.a. zum Stärken von Vorbereitungs- und Bewältigungsstrategien und zum resilienten, entwicklungsorientierten Wiederaufbau („Build Back Better“) sowie Verknüpfung von Entwicklungshilfe und Entwicklungszusammenarbeit.

Die Kernaussagen zur integrierten Sicherheit aus dem Papier des Auswärtigen Amtes lauten:

Integrierte Sicherheit für Deutschland

Integrierte Sicherheit bedeutet, alle Themen und Instrumente zusammenzubringen, die für unsere Sicherheit vor Bedrohungen von außen relevant sind.

Sicherheit ist in diesem Sinn Bestandteil aller Politikbereiche und beschreibt ein ihnen gemeinsames Ziel. Jeder Politikbereich ist von einer verschlechterten Sicherheitslage betroffen, jeder kann zur Verbesserung der Sicherheit unseres Landes beitragen. Integrierte Sicherheit geht damit über Abstimmung, Koordinierung und Vernetzung hinaus. Sie formuliert durch die gezielte und tiefe Verschränkung unterschiedlicher Politikfelder Antworten auf komplexe Bedrohungen und identifiziert die jeweils passenden Instrumente.

Integrierte Sicherheit muss nach innen wie nach außen wirken. Aufgrund der Wechselwirkungen zwischen innerer und äußerer Sicherheit können wir uns nach außen nur schützen, wenn wir auch im Inneren gefestigt und abwehrfähig sind. Deshalb sind die Stärkung der Resilienz von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft sowie der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen von zentraler Bedeutung.

Integrierte Sicherheit führt vorbeugendes, eingreifendes und nachsorgendes Handeln zusammen. Dabei richtet sie sich schon heute auch auf mittel- bis langfristige Herausforderungen.

Mit der Politik der Integrierten Sicherheit wollen wir mit unseren Nachbarn, Partnern und Verbündeten noch mehr als bisher zur Sicherheit in Europa und der Welt beitragen. Gemeinsam mit ihnen wollen wir unsere Zukunft aktiv gestalten.

VdZ: Um die Sicherheit der Menschen in Deutschland vor Katastrophen und Krisen zu stärken, ist ein gesamtgesellschaftlicher Ansatz erforderlich. Wer sind die Akteure und wie sind sie vernetzt? Wie kann ihre Zusammenarbeit verbessert werden?

Broemme: Die Akteure sind sämtliche Bereiche und alle Ebenen der Verwaltung, der Wirtschaft und der Gesellschaft – viele wissen es allerdings noch nicht.

Zur Koordinierung der vielfältigen Akteure gibt es auf Bundesebene bereits seit 2016 die Interministerielle Arbeitsgruppe (IMAG) Sendai. Bereits im November 2017 wurde beim Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) die Nationale Kontaktstelle (NKS) eingerichtet, die die Umsetzung des Sendai-Rahmenwerks koordiniert und fachlich unterstützt. Auf Bundesebene kommt also dem BBK eine zentrale Rolle zu – eine Mammutaufgabe. Selbstverständlich können sich auch die Länder, Kreise und Kommunen vom BBK beraten lassen – die Koordinierung der Verwaltung, der Unternehmen und der Bevölkerung muss jedoch in der jeweiligen Ebene erfolgen. Hierzu wäre zweckmäßig, Institutionen auf Landes- und Kreisebene analog zum BBK zu schaffen oder zu beauftragen.

Die Deutsche Anpassungsstrategie (DAS) ist seit 2008 als Daueraufgabe etabliert, sie stützt sich auf ein Behördennetzwerk aus 28 Bundesbehörden. Hinsichtlich der Extremwetterereignisse sind dies die Bundesoberbehörden Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), Technisches Hilfswerk (THW), Deutscher Wetterdienst (DWD), Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) und Umweltbundesamt (UBA). Eine derartige Zusammenarbeit auf Länderebene ist bislang die Ausnahme, u.a. in Berlin.

Ebenso wichtig ist die Vernetzung der Verwaltungen mit der Wirtschaft – und das nicht exklusiv in Bezug auf die Kritische Infrastruktur (KRITIS). Hier gibt es noch viel zu tun!

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Ebenso wichtig ist die Vernetzung der Verwaltungen mit der Wirtschaft – und das nicht exklusiv in Bezug auf die Kritische Infrastruktur (KRITIS). Hier gibt es noch viel zu tun!

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Wie wird die Umsetzung der Resilienzstrategie finanziert? Wie werden die Haushaltsmittel derzeit verteilt?

Broemme: Zusätzliche Haushaltsmittel zur Umsetzung dieser wichtigen Strategien gibt es nicht. Im „Sendai-Papier“ ist hierzu ausgeführt: „Die Finanzierung der Umsetzung der Maßnahmen in Einklang mit der Resilienzstrategie obliegt den beteiligten Akteuren und jeweiligen Fachressorts im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten und vorbehaltlich verfügbarer Haushaltsmittel.“

Also alles ein „zahnloser Tiger“? Nein, denn manche von den ohnehin anstehenden Investitionen – richtig und vor allem vernetzt geplant – können auch zur Erfüllung der o.g. Ziele benutzt werden. Und viele Maßnahmen erfordern statt finanzieller Ressourcen eher „Gehirnschmalz“.

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Entgegen manchen Verlautbarungen ist die Hilfsbereitschaft der deutschen Bevölkerung bemerkenswert groß!

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VdZ: Risikokommunikation und Aufklärung der Bevölkerung über Selbstschutzmaßnahmen sind für die Resilienz einer Gesellschaft wesentlich. Wie kann der Informationszugang z.B. durch digitale Austauschplattformen und Kommunikationsangebote verbessert werden?

Broemme: Es wird oft gefordert, dass „der Bund“ mehr tun müsse. Vor allem das BBK aber auch bekannte Institutionen wie das Robert-Koch-Institut (RKI) und der Deutsche Wetterdienst (DWD) oder weniger bekannte wie das Bundesamt für Geodäsie und Kartographie (BKG) und das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) bieten auf ihren Homepages eine Fülle von öffentlich zugänglichen Informationen. Eine wichtige Rolle – aus Sicht der Bewohnerschaft – spielen die Kommunen. Hier gibt es viele gute Beispiele und manche „Schnarchnasen“.

VdZ: Welche Rolle haben ehrenamtliche Strukturen wie das THW für den Zivil- und Katastrophenschutz? 

Broemme: In Deutschland bestehen die „Blaulichtorganisationen“ hauptsächlich aus Ehrenamtlichen. Das Technische Hilfswerk (THW) ist hierfür ein gutes Beispiel: rund 86.000 Ehrenamtliche und 2.000 Hauptamtliche. Dazu kommt bei großen Katastrophen die Rolle der vielen ungebundenen Spontanhelferinnen und -helfer. Entgegen manchen Verlautbarungen ist die Hilfsbereitschaft der deutschen Bevölkerung bemerkenswert groß!