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Das e-Government der Landeshauptstadt München: Reine Hybris?

Eine Gegenüberstellung der tatsächlich vorhandenen eGovernment-Bürgerservices mit den Visionen der Leiterin des IT-Referats

Ein Kommentar von Robert Müller-Török, Hochschule für öffentliche Verwaltung und Finanzen Ludwigsburg

Münchens IT-Referentin Laura Dornheim hat Visionen 

Dieser Tage stolperte der Autor, Münchner Bürger, über ein Interview, in dem die IT-Referentin der Landeshauptstadt Aussagen traf wie beispielsweise  

„Darum evaluieren wir aktuell den Einsatz von KI-gestützten Spracherkennungssystemen in der Verwaltung. Die könnten es den Menschen ermöglichen, auf einfache und intuitive Weise, nämlich in ganz normaler Sprache, mit der Stadtverwaltung zu interagieren.“ 

„Anstatt komplizierte Formulare auszufüllen oder nach sehr speziellen Schlagwörtern zu suchen, können Sie einfach eine Frage stellen. Egal ob „Wie kriege ich einen Parkausweis?“ oder „Wer hilft mir, wenn ich die Miete nicht zahlen kann?“ – mithilfe von künstlicher Intelligenz bekommen Sie eine verständlich formulierte Antwort, samt Link zu Anträgen und weiteren Infos.“ 

„Genau dafür hat das Innolab, unser Experimentier-Team im IT-Referat, gerade ein Pilotprojekt entwickelt.“. 

Ein zweites Interview betraf den künftigen Digitalrat der Stadt München und enthielt Aussagen wie „Alter ist dabei nur eine Perspektive von vielen, die in den Digitalrat einbezogen werden sollen. Das ehrenamtliche Gremium soll mit Vertreterinnen aus Wirtschaft und Wissenschaft, dem Sozialbereich und aus der Zivilgesellschaft besetzt werden. Besonders wichtig ist uns, auch Menschen mit Behinderung und mit Migrationserfahrung einzubeziehen.“.  

Keine Frage, eine moderne Stadtverwaltung muss Diversität pflegen, und KI-basierte Dienstleistungen gehören zu den relevanten Zukunftsprojekten. Fraglich ist allerdings, ob der aktuelle Stand der digitalen Verfügbarkeit von Bürgerservices nicht eher Anlass gibt, sich mit allen verfügbaren Kräften sofort um bisher Versäumtes zu kümmern.

Die Realität des e-Government in München: Stand der frühen 90er 

Als Bürger und Einwohner von München ist dem Autor die Realität der Stadtverwaltung seit 2009 wohlbekannt. Leider sind viele für den Bürger im Alltag relevante Funktionen auf dem Digitalisierungsniveau der frühen 1990er Jahre. Dies wurden auch bereits in VdZ verarbeitet, beispielsweise die Realität des Führerscheinumtausches, Motto „Der Bürger soll laufen, nicht die Daten“ oder der Umgang mit COVID-19 nach dem Motto „Digitalisierung ist gut, Papierverwaltung ist besser“. Darum exemplarisch ein paar "Schmankerl aus der bayerischen Spezialitätenküche des IT-Referats". Fairerweise sei angemerkt, dass das „Rezeptbuch“ von Bund und 16 Ländern miterstellt wird - und der so insgesamt angerührte, nicht wohlschmeckende IT-Brei also von einer Vielzahl an Köchen beeinflusst wird.   

Passabholung: Wie auf https://stadt.muenchen.de/service/info/hauptabteilung-ii-buergerangelegenheiten/1064390/ nachzulesen, ist eine postalische Zustellung des Reisepasses in der reichen Stadt München nicht zulässig. Finanzielle Gründe können nicht ausschlaggebend sein. München verfügt über ein BIP pro Kopf von 80.793 Euro. Im bettelarmen Moldau mit einem BIP pro Kopf von 5.672,22 USD oder im mit München vergleichbareren Wien ist das unproblematisch möglich. Da sogar die US-Botschaft an ihre Staatsbürger in Rumänien Pässe per TNT-Kurierdienst zustellt, ist es nicht verwunderlich, dass man auch dort, bei einem BIP pro Kopf von 15.851,14 USD den Pass nicht persönlich abholen muss. Der deutsche Sonderweg der persönlichen Abholung ist also im Jahr 2023 kaum mehr gerechtfertigt. 

Würde sich das lohnen? Ein Rechenbeispiel: Bei der Einwohnerzahl Münchens von 1,6 Mio., davon 1,1 Mio. deutsche Staatsangehörige, einer auf einer Umfrage basierenden Reisepassbesitzquote von 40 Prozent – anscheinend hat die Bundesrepublik selbst keine präzisen Zahlen - ergibt das bei  10 Jahren Gültigkeitsdauer und einer der Einfachheit halber angenommenen Gleichverteilung 44.000 neue Pässe pro Jahr, bei denen die Bürger, bei wiederum verwaltungsfreundlich geschätzten 1,5 Stunden eigenem Zeitaufwand (für Terminvereinbarung, Anreise, Wartezeit, Passausfolgung und Heimreise) jedes Jahr 66.000 Stunden Lebenszeit aufwenden. Hinzu kommen noch, bei ebenso verwaltungsfreundlich angenommenen fünf Minuten der Verwaltungsmitarbeiter, für die persönliche Abholung 220.000 Minuten oder 3.667 Stunden Verwaltungsarbeitszeit – dies entspricht zweieinhalb Vollzeitstellen. Und, ebenfalls noch zusätzlich, erzeugen 44.000 Passabholer Terminknappheit für andere Verwaltungsvorgänge im Kreisverwaltungsreferat. Worin die behauptete Nichtzulässigkeit des Postversands durch die Münchner Stadtverwaltung begründet wird, ist an dieser Stelle uninteressant Der unabänderliche Kernbestand der Verfassungsordnung des Grundgesetzes dürfte davon kaum berührt sein.  

Bearbeitungszeit Reisepass: Laut In München ist ein Reisepass in „frühestens vier bis fünf Wochen“ abholbereit. In Wien wird er „innerhalb von fünf Arbeitstagen per Post zugestellt“. Leider kommt München nicht nur gegen einen Digitalisierungs-Champion wie Estland ins Hintertreffen. Auch in Rumänien geht es besser, schneller und billiger als in München: hier sind es fünf Arbeitstage. Ebenso in Ungarn - dort werden bis maximal 20 Tage angegeben, wobei für 101,70 Euro Gebühr auch eine Ausstellung binnen 24 Stunden möglich ist. 

Meldebescheinigung: Hier lässt sich exemplarisch zeigen, dass eine starke Authentifizierung nach eIDAS Grundlage funktionierendes e-Governments darstellt – bzw. im Fall der Bundesrepublik Deutschland darstellen würde. In Österreich erfüllt die Bürgerkarte diese Anforderung. Mit ihr kann zu jeder Tages- und Nachtzeit online für drei Euro Gebühr eine Meldebescheinigung angefordert werden. Die Bescheinigung ist innerhalb von drei Minuten elektronisch zugestellt. Sie ist mit einem elektronischen Siegel versehen, gilt als Original und ist sofort an alle Empfänger weiterleitbar.  

In München hingegen kann man problemlos auch für Laura Dornheim, Dieter Reiter, Thomas Tuchel, Udo Wachtveitl oder sonst wen Meldebescheinigungen anfordern, da keine Authentifizierung verlangt wird. Die Kosten von fünf Euro kann man einem beliebigen Konto per Lastschrift belasten lassen, und das Ganze dauert drei Wochen. Der vorgebliche Anforderer kriegt dann eine tatsächlich nie bestellte Meldebescheinigung, eine Lastschrift über fünf Euro – und vermutlich einen Haufen Arbeit, das Ganze rückabzuwickeln. Wie man seine eigene IP-Adresse und Identität vor dann ggf. tätig werdenden Ermittlern verbirgt, ist auch für Schulkinder mittels Google problemlos herauszukriegen. Der Autor war dieser Tage gezwungen, persönlich am Kreisverwaltungsreferat vorzusprechen – denn nur dort kriegt man die Meldebescheinigung sofort und ohne Wartezeit. Der dafür notwendige Termin ist elektronisch zu vereinbaren – das ist der aktuelle Stand der Verwaltungsdigitalisierung. 

Ärztliche Bescheinigung zum Mitführen von Betäubungsmitteln: Wer ein Kind mit einer bestimmten Medikation hat, muss vor jeder Auslandsreise eine ärztliche Bescheinigung mit sich führen. Diese muss von der zuständigen Gesundheitsbehörde beglaubigt sein. In München ist dies das Gesundheitsreferat. Leider muss dies für jede Auslandsreise, auch wenn sie nur ein Wochenendausflug über die Salzburger Grenze ist, gesondert beantragt werden. Auch dieser Vorgang ist streng papierbasiert.  

Zwar verfügen Ärzte über e-Rezepte, die Landeshauptstadt München allerdings nicht über ein elektronisches Siegel. Und dies 24 Jahre nach der Signaturrichtlinie der damaligen EG. Deshalb muss man online einen Termin vereinbaren – die einzige Leistung der Verwaltungsdigitalisierung hier , persönlich erscheinen und 15 Euro Gebühr für die Beglaubigung mit einem leicht fälschbaren „Kartoffelstempel“ bezahlen. Dabei ist der Wohnort relevant: Die gleiche Leistung kostet im Landkreis München nur 5 Euro, in Dachau 20 Euro. Die kommunale Selbstverwaltung ist kreativ bei der Aufstellung der Gebührenordnung. 

KITA-Finder: Während des Schreibens dieses Aufsatzes ereilte den Autor ein Anruf eines Münchner Kindergartens mit der Zusage für einen Betreuungsplatz. Dies drei Monate nach der Zusage eines anderen Kindergartens, welche im KITA-Finder auch angenommen und die Einschreibung vollendet wurde. Der KITA-Finder ist, wie durch Screenshots ggf. belegbar, nicht in der Lage, auch Monate nach einer Zusage automatisch alle anderen Bewerbungen zu streichen, was allerdings im Gegensatz zu den eigenen FAQ steht: „Im Falle einer Platzannahme durch Sie, werden alle weiteren offenen Anmeldungen und Zusagen verworfen.“. Solche Problemstellungen sind in der IT lösbar, ohne dass es des Einsatzes von KI bedarf. Genauer gesagt war das bereits in den 1970ern lösbar, als die IT noch EDV hieß.  

Zusammengefasst besteht das e-Government-Angebot der Landeshauptstadt München im Jahr 2023 aus Funktionen, die dem technologischen Stand der frühen 90er entsprechen: Passiv konsumierbare Information, PDF-Formulare zum Download, Ausfüllen und Ausdrucken, Kontakt per E-Mail möglich, Terminvereinbarung und vor allem keine belastbare elektronische Identifikation und nicht annähernd eine Ende-zu-Ende-Digitalisierung von Verwaltungsprozessen.  

München ist bunt: Aber ausschließlich in Deutsch 

Betrachtet man Diversität nicht nur als Modebegriff, muss sie genauer definiert werden. Beim Angebot der Stadt, die so gerne mit dem Slogan „München ist bunt“ agiert, endet die Buntheit leider allzu schnell. Denn das Stadtportal muenchen.de bietet zwar als Sprachen Englisch, Französisch, Italienisch, Russisch, Arabisch und Han-Chinesisch neben Deutsch an, aber leider endet die Vielsprachigkeit an ebendieser Stelle. Um genau zu sein dort, wo unter „Supporto per i residentidann nur der Verweis auf eine ausschließlich englischsprachige Webseite mit „Tutte le informazioni della communità in inglese“ prangt. Das, was im ausschließlich deutschsprachigen Bürgerservice passiert, wenn man auf die Schaltfläche „Deutsch“ klickt und dann bspw. „Français“ auswählt, sehen wir hier. Genau, nichts, ein Klick auf den Reiter „Mairie“ endet im englischen Sprachraum. Während wirklich multikulturelle Städte wie Wien ihre Services in den tatsächlich verwendeten Sprachen der meisten nichtdeutschsprachigen Einwohner anbieten, nämlich in Serbokroatisch und Türkisch, begnügt sich München mit leeren Ankündigungen ohne tatsächliche Inhalte, sieht man von einem rudimentären Angebot für Migranten ausschließlich in englischer Sprache ab. So rudimentär, dass man bei Klick auf „Book appointment online“ zur rein deutschsprachigen Terminvereinbarung weitergeleitet wird. Und das bei einem rein deutschsprachigen Angebot für alle anderen e-Government-Services bei einem nominellen, d.h. rein nach Staatsangehörigkeit berechnetem Ausländeranteil von knapp 27 Prozent. Hier wäre es eine Chance für die IT, tatsächliche und umfassende Teilhabe für weite Bevölkerungskreise jenseits der zwei, drei Einzelpersonen des geplanten Digitalrats zu ermöglichen.  

Fazit: Endlich IT-Services für das Kerngeschäft der Verwaltung machen 

Die Realität der Münchner Stadtverwaltung in Bezug auf Digitalisierung ist die der frühen 90er. Elektronische Identifikation, abschließende Erledigung von Verwaltungsvorgängen, Ende-zu-Ende-Digitalisierung kommen in der Realität nicht vor. Es laufen die Bürger anstatt die Daten. Von Karl Kraus stammt der Aphorismus „Ich verlange von einer Stadt, in der ich leben soll: Asphalt, Straßenspülung, Haustorschlüssel, Luftheizung, Warmwasserleitung. Gemütlich bin ich selber.“. 

Gut ein Jahrhundert später würde dieser begnadete Satiriker formulieren „Ich verlange von einer Stadt, in der ich leben soll: eID, elektronische Amtssiegel, digitale Signaturen, Glasfaserinternet, Gratis-WLAN und 24/7-Verfügbarkeit durchgängig digitalisierte Verwaltungsleistungen. Divers bin ich selber.“.  

Führend sind die e-Government-Dienstleistungen der Landeshauptstadt höchstens im Anteil analoger Komponenten. Leider schwelgt man scheinbar in völliger Selbstüberschätzung, griechisch Hybris, träumt von KI und realisiert nicht, dass die Landeshauptstadt München in Bezug auf e-Government den direkten Vergleich mit Moldau und Rumänien nicht besteht.

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