Handschlag

Rahmenvereinbarungen – Keine Verpflichtung zur Angabe des Gesamtauftragswertes!

EuGH-Urteil in der Rechtssache „Antitrust und Coopservice“ und dessen Bedeutung

Rahmenvereinbarungen waren in jüngster Zeit wieder vermehrt Gegenstand vergaberechtlicher Diskussionen. Auch der EuGH und die Vergabekammer des Bundes („VK Bund“) haben zu Rahmenvereinbarungen entschieden, allerdings ohne eine einheitliche Richtung vorzugeben. Sind öffentliche Auftraggeber zur Bekanntgabe des Gesamtauftragswertes von Rahmenvereinbarungen verpflichtet? Sind Rahmenvereinbarungen ausschreibungsfrei erweiterbar?

Bei Beantwortung dieser Fragen führt zunächst kein Weg am europäischen Vergaberecht vorbei. In Anhang V Teil C Nr. 10 lit. a) der Vergaberichtlinie RL 2014/24/EU ist festgelegt, dass ein öffentlicher Auftraggeber den Bietern bei der Vergabe von Rahmenvereinbarungen den Wert oder die Größenordnung „soweit möglich“ in der Auftragsbekanntmachung mitteilen muss. Damit sind öffentliche Auftraggeber bei Rahmenvereinbarungen – anders als bei der Vergabe von Einzelaufträgen – lediglich zur ungefähren Nennung des Auftragsvolumens oder der etwaigen Größenordnung der Beschaffung verpflichtet. Und dies auch nur, wenn die Angabe des ungefähren Auftragsvolumens und/oder der Größenordnung überhaupt möglich ist. 

§ 21 VgV übersetzt diese europarechtliche Vorgabe stimmig in das nationale Vergaberecht. So ordnet § 21 Abs. 1 S. 2 VgV an, dass der Auftraggeber das in Aussicht genommene Auftragsvolumen im Rahmen des ihm Möglichen und Zumutbaren sorgfältig zu ermitteln und bekanntzugeben hat. Das Auftragsvolumen muss aber gerade nicht abschließend festgelegt werden. 

Nach § 21 Abs. 1 S. 2 VgV sind öffentliche Auftraggeber bei der Vergabe von Rahmenvereinbarungen nicht pauschal zur Angabe des Gesamtwerts oder der Gesamtgrößenordnung der Rahmenvereinbarungen verpflichtet. Die Vorschrift verlangt nur, dass das in Aussicht genommene Auftragsvolumen so genau wie möglich zu ermitteln und bekanntzugeben ist. Eine abschließende Festlegung ist gerade nicht gefordert!

EuGH-Urteil in der Rechtssache „Antitrust und Coopservice“ – Sind öffentliche Auftraggeber nun doch zur Angabe des Gesamtvolumens verpflichtet?

Im Dezember 2018 hat der EuGH in der Rechtssache „Antitrust und Coopservice“ allerdings entschieden, dass öffentliche Auftraggeber bei Rahmenvereinbarungen grundsätzlich zur genauen Angabe des Auftragsvolumens und der Gesamtmenge der Rahmenvereinbarung verpflichtet seien (Urteil v. 19. Dezember 2018, Rs. C-216/17).

Ändert sich mit der EuGH-Entscheidung auch das Verständnis des § 21 VgV, so dass Auftraggeber das Gesamtauftragsvolumen und die Gesamtmenge von Rahmenvereinbarungen nun zwingend in der Auftragsbekanntmachung angeben müssen?

Wohl nein! Der Gerichtshof argumentiert in seiner Entscheidung „Antitrust und Coopservice“ mit der alten Rechtslage zu Art. 1 Abs. 5, 32 RL 2004/18/EG sowie deren Anhang VII Teil A Nr. 6 lit. c) RL 2004/18/EG. Über die Auslegung der aktuell gültigen RL 2014/24/EU hat der EuGH also gar nicht entschieden. Doch das alte Vergaberecht unterschied sich erheblich von der derzeitigen Rechtslage: Nach dem alten Anhang VII Teil A Nr. 6 lit, c) RL 2004/18/EG mussten Auftraggeber in der Bekanntmachung der Rahmenvereinbarungen neben der Laufzeit auch den für die gesamte Laufzeit der Rahmenvereinbarung veranschlagten Gesamtwert der Dienstleistungen sowie – wann immer möglich – den Wertes und die Häufigkeit der zu vergebenden Aufträge beziffern. Diese Rechtslage besteht aber nicht mehr fort. Anhang V Teil C Nr. 10 lit. a) RL 2014/24/EU verlangt lediglich die Angabe des Werts oder der ungefähren Größenordnung, und zwar nur „soweit möglich“.

Die Änderung der Vergabeunterlagen erzwingt den Verfahrensausschluss nicht mehr automatisch
Bundesgerichtshof

Die Änderung der Vergabeunterlagen erzwingt den Verfahrensausschluss nicht mehr automatisch

Praxisrelevante Entscheidung des Bundesgerichtshof vom 18. Juni 2019

Auch die 1. VK Bund gibt Entwarnung: Keine Pflicht zur Angabe des Gesamtauftragsvolumens!

Erfreulicherweise teilt die 1. VK Bund dieses Rechtsverständnis. Mit Beschluss vom 19. Juli 2019 (VK 1-39/19) hat die 1. VK Bund der Flexibilität von Rahmenvereinbarungen Rechnung getragen. Das Urteil des EuGH sei bereits deshalb nicht generalisierbar, weil es ausdrücklich zur alten Rechtslage nach der RL 2004/18/EG erging, die sich entscheidend geändert habe. Demgegenüber verlange das aktuelle Recht nur noch, dass der Wert oder die Größenordnung der zu vergebenden Rahmenvereinbarung „soweit möglich“ angegeben wird.

Das geltende Vergaberecht verpflichtet Auftraggeber zwar nicht zur verbindlichen Angabe des Gesamtauftragsvolumens oder Obergrenzen, entbindet aber nicht von der Pflicht zur sorgfältigen Schätzung der ungefähren Größenordnung der Rahmenvereinbarung! 

Aber: Vorsicht bei Erweiterungen von Rahmenvereinbarungen!

Nur rund zehn Tage später hat die 2. VK Bund zu Rahmenvereinbarungen entschieden (Beschluss vom 29. Juli 2019 – VK 2-48/19). Die Entscheidung der zweiten Vergabekammer des Bundes geht jedoch weiter: Das vom Auftraggeber gemäß § 21 Abs. 1 S. 2 VgV geschätzte und angegebene Auftragsvolumen bilde eine der Rahmenvereinbarung immanente Mengenbegrenzung im Sinne einer Höchstmenge, bei deren Erreichen der Beschaffungszweck der Rahmenvereinbarung erfüllt sei. Keinesfalls können die benannten Mengen unbegrenzt überschritten werden. Vielmehr greife in so einem Fall § 132 GWB, wonach wesentliche Vertragsänderungen – auch bei Rahmenvereinbarungen – zu einer Neuausschreibungspflicht führen.

Wie nun ist dieser Beschluss einzuordnen? Im Ergebnis ist der Entscheidung wohl zuzustimmen, da die vom Auftraggeber exakt benannte Volumenobergrenze für die Beschaffung von Bürostühlen vorzeitig – und zwar ganz erheblich – ausgeschöpft war. Doch vermag der Beschluss die generellen Zweifel an der Anwendbarkeit von § 132 GWB in den Fällen nicht auszuräumen, in denen Auftraggeber gerade nicht in der Lage sind, das Gesamtauftragsvolumen abschließend zu schätzen oder bei denen der Auftraggeber den Bietern lediglich einen groben Schätzwert an die Hand geben kann. Denn bei einem Schätzwert fehlt es doch naturgemäß an einem Anknüpfungspunkt für die Feststellung der Wesentlichkeit i.S.v. § 132 GWB. Zudem erscheint jedenfalls die uneingeschränkte Anwendbarkeit des § 132 GWB der – schon europavergaberechtlich angeordneten – Flexibilität von Rahmenvereinbarungen zu widersprechen.

In Abhängigkeit von den Angaben des Auftraggebers zum Auftragsvolumen ist zu entscheiden, ob eine Erweiterung der Rahmenvereinbarung ausschreibungsbedürftig ist. Jedenfalls die uneingeschränkte Anwendbarkeit des § 132 GWB auf Rahmenvereinbarungen.

Für die Praxis verbleibt demnach im Bereich von Erweiterungen bei Rahmenvereinbarungen erhebliche Rechtsunsicherheit. Fest steht bislang nur, dass Auftraggeber lediglich im Rahmen des Zumutbaren und Möglichen zur Angabe des Gesamtauftragswerts/Gesamtauftragsvolumens verpflichtet sind. Kann der Auftraggeber dies im Einzelfall nicht leisten, darf er sich auf die Mitteilung eines Schätzwertes auf Basis von Erfahrungswerten aus vergangenen oder vergleichbaren Vergabeverfahren beschränken. Bei Überschreitung der geschätzten Mengen ohne Durchführung eines erneuten Vergabeverfahrens ist dann jedoch besondere Vorsicht geboten. Schlimmstenfalls ist die Erweiterung nach § 132 GWB vergaberechtswidrig.