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Über Verwaltung und Ressortgrenzen hinausgehen

Referatsleiter Jörg Mayer-Ries sammelte 18 Monate Erfahrung an einem wissenschaftlichen Institut und wirbt für mehr Austausch mit anderen Branchen/ Interview

Dr. Jörg Mayer-Ries, seit 2007 Referatsleiter im BMU, war 2017/2018 für 18 Monate an das renommierte Potsdamer Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) als Senior Fellow zugewiesen. Im Gespräch mit „Verwaltung der Zukunft“ berichtet der ausgebildete Ökonom nicht nur über seine Verwaltungserfahrungen und was ein solcher Aufenthalt in der Wissenschaft mit sich bringt, sondern auch über die Notwendigkeit neuer Austauschformate: Soll in Zeiten von grundlegenden Umbrüchen in unseren Gesellschaften wirklich zukunftsträchtig gehandelt werden, sind Politik und Verwaltung gehalten, neue Arbeits- und Interaktionsformen intern und mit Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft aufzubauen.
Jörg Mayer-Ries leitet das Referat für Nachhaltigkeit im Bundesumweltministerium (BMU). Über eine Zuweisung arbeitete Mayer-Ries von Februar 2017 bis August 2018 im Auftrag des BMU am Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) in Potsdam.
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Verwaltung der Zukunft: Herr Mayer-Ries, welchen Problemen sehen Sie Ihre Arbeit als Referatsleiter für Nachhaltigkeit im Bundesumwelt-ministerium ausgesetzt?

Mayer-Ries: Ein Problem betrifft sicherlich Fach- und Führungskräfte in vielen Ministerien und Behörden: Es existieren heute mehr vielschichtige Themen denn je, die auf verschiedenen Ebenen im täglichen Betrieb so schnell auftauchen, dass es kaum möglich ist, die für eine integrierte Herangehensweise notwendigen unterschiedlichen Sichtweisen auf das Thema ausreichend effektiv und effizient genug einzuholen. Es ist angesichts der hohen Komplexität und Geschwindigkeit politischer Herausforderungen oft schwierig, sich genauer mit einer Sache, ihren vielfältigen Wechselwirkungen, konfliktiven wie synergetischen, auseinanderzusetzen oder sich hierzu in einen vertieften Austausch von Perspektiven und Gedanken zu begeben.

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Es existieren heute mehr vielschichtige Themen denn je, die auf verschiedenen Ebenen im täglichen Betrieb so schnell auftauchen, dass es kaum möglich ist, die notwendigen Sichtweisen ausreichend einzuholen.

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VdZ: Inwiefern tauscht sich Ihr Ressort bislang mit der Forschung und wissenschaftlichen Einrichtungen intensiver aus?

Mayer-Ries: Das BMU ist auf wissenschaftliche Expertise stark angewiesen. Das gilt sicherlich auch für viele andere Ressorts. Für das BMU und hier auch die Grundsatzabteilung meines Hauses sind aber der natur-, sozial- wie geisteswissenschaftliche Wissenstransfer in besonderem Maße bedeutsam. Deshalb gibt es einen regen Austausch zu vielfältigsten Fragen: Neben den mit uns verbundenen Ressortforschungseinrichtungen und wissenschaftlichen Beiräten bestehen vielfältige Kooperationen zu Einrichtungen der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Politikberatung – regelmäßig stellen wir Fragen an Forschungseinrichtungen und informieren uns über den neuesten Stand der Dinge. Die Wissenschaft bildet zudem junge Leute aus, die später im BMU tätig sind und viele Kollegen bei uns haben einen qualitativ hochwertigen wissenschaftlichen Abschluss, im Gesamtprofil geht das quer durch alle Disziplinen.

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Das Wissenschafts- und Beratungssystem hat sich weiterentwickelt, sodass wir uns als Auftraggeber, Nachfrager und Kunden eingehender damit befassen sollten...

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Kaum zu bewältigen: Die Flut an Informationen führt dazu, dass sich Führungskräfte oft rein auf das berufen müssen, was ihnen zugetragen wird, ohne sich im größerem Kreise selbst umschauen zu können.
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VdZ: Das klingt ja erst mal sehr gut. Worin sehen Sie möglicher-weise auch Probleme? 

Mayer-Ries: Ein Problem sehe ich darin, dass die eigenen Erfahrungen im Zuge des beruflichen Werdegangs von Kolleginnen und Kollegen, unter welchen Bedingungen und mit welchen Methoden und Ansätzen Wissenschaft arbeitet, oft schon länger zurückliegen. Das Wissenschafts- und Beratungssystem hat sich in der Vergangenheit jedoch weiterentwickelt, sodass wir als Auftraggeber, Nachfrager und Kunden uns eingehender damit befassen sollten. Umgekehrt ist der „Maschinenraum“ von Politik und Verwaltung für die Wissenschaft eine fremde oder oft befremdliche Blackbox. Das Verhältnis zwischen Akteuren wissenschaftlicher Politikberatung und praktischer Anwendung ist daher – gelinde gesagt – oft nicht einfach, divergente Ansprüche, Sprachen, Abläufe bedingen Missverständnisse und Misserfolge.

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... umgekehrt ist der „Maschinenraum“ von Politik und Verwaltung für die Wissenschaft eine fremde oder oft befremdliche Blackbox.

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VdZ: Das heißt, eine „Auffrischung“ an der einen oder anderen Stelle täte ganz gut? 

Mayer-Ries: Um jetzt mal nur die Praxis- und Nachfrageseite zu adressieren: Dort ist es wichtig, einen vertieften Einblick zu bekommen, wie wissenschaftliche Institutionen heute funktionieren, welches Wissen über Politik und Verwaltung dort gegeben ist und welche Erwartungen diese Einrichtungen also an ihre Auftraggeber richten.

VdZ: Nun gehören Sie im BMU der Grundsatzabteilung an, befassen sich also vor allem mit strategischen Fragen: Inwiefern hat Sie Ihr Aufenthalt am Potsdamer Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) hier weitergebracht? 

Mayer-Ries: Das IASS ist ein interessantes und besonderes Institut, weil es einerseits Grundlagenforschung betreibt und Entwicklungen sehr langfristig betrachtet. Dazu gehören Fragen der Nachhaltigkeit und Transformation. Es geht um den strukturellen Wandel der Gesellschaft und genau das beschäftigt uns auch in der Grundsatzabteilung des BMU. Andererseits ist das Institut explizit gegründet worden, um Gesellschaft und Politik gerade in diesen Fragen konkret zu beraten.

Am IASS werden viele Fragen behandelt, die mich auch in meiner Funktion als Referatsleiter für nachhaltige Entwicklung und damit auch Grundsatzfragen der Wechselwirkung von Umwelt-, Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik beschäftigen, die ich aber in der täglichen Arbeit – abteilungsübergreifend innerhalb des Ressorts wie in ressortübergreifenden Abstimmungen – zu selten und zu wenig vertiefend thematisieren kann. Dabei ist gerade die intensive Auseinandersetzung mit möglichst verschiedenen Perspektiven nötig, um kooperativ zu nachhaltigen, systemischen Lösungsansätzen zu kommen. 

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Es ist gerade die intensive Auseinandersetzung mit möglichst verschiedenen Perspektiven nötig, um kooperativ zu nachhaltigen, systemischen Lösungsansätzen zu kommen. 

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VdZ: Welche Erfahrungen haben Sie in Ihrer Zeit am IASS konkret gemacht?

Mayer-Ries: Ich habe viel erfahren und gelernt über technologische, gesellschaftliche und kulturelle Strömungen und Brüche, die auf uns zukommen und auch für unsere natürlichen Lebensgrundlagen und die Umweltpolitik wichtig werden: Digitalisierung und biotechnologische Innovationen, Demokratie- und EU-Krise, Wertewandel und soziale Innovationen. Das IASS ist hier fachlich sehr breit und aktuell aufgestellt und zudem ein junges, hoch engagiertes und international geprägtes Institut. Man erhält deshalb dort als Senior Fellow auf Zeit – so meine Rolle dort – vielfältige unerwartete Fragen, unverstellte Meinungen und auch unkonventionelle Lösungsvorschläge.

Heute unterliegen selbst wissenschaftliche Einrichtungen, die lange als relativ "frei" galten, vermehrt Zwängen, konforme Ergebnisse zu "liefern".
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VdZ: Wie wird in einer solchen Atmosphäre gearbeitet?

Mayer-Ries: In jedem Fall vielfach anders als in der hierarchisch geprägten Ministerialverwaltung: Kleine Teams agieren relativ ohne sichtbare Hierarchie, vernetzen sich anhand aufkommender Fragestellungen und Aufträge, produzieren Personen zuordenbare Ergebnisse. Vieles ist an Projekten oder teamübergreifenden Fragestellungen orientiert und basiert auf flexiblen Arbeitsformen.

Ich habe aber auch die Zwänge mitbekommen, denen selbst eine vergleichsweise mit vielen Freiheitsgraden ausgestattete wissenschaftliche Einrichtung unterliegt: Stärker als  bislang muss sich auch das IASS an den klassischen wissenschaftlichen Anreiz-, Karriere- und Fördermustern orientieren, um seinen Bestand zu sichern, und gleichzeitig soll und will es im Markt der Politikberatung bestehen. Für den Einzelnen dreht es sich hier wie erst recht in anderen, klassischen Forschungsinstituten darum, möglichst viel zu publizieren und Projekte und Drittmittel nachzuweisen. Die oft langwierigen Abläufe vom Forschungsergebnis bis zur Publikation stehen der Praxisorientierung eher entgegen.

VdZ: Hatten Sie selbst ein konkretes Projekt am IASS?

Mayer-Ries: Meine Aufgabe war es, die „Wissenschaftsplattform Nachhaltigkeit 2030“ als Berater und Ideengeber vor Ort mitaufzubauen – das IASS betreibt die Geschäftsstelle und hat den Ko-Vorsitz inne. Die Plattform bietet einen von der Bundesregierung initiierten, aber unabhängigen Ort, an dem sich die Wissenschaft mit Politik, Wirtschaft und Gesellschaft über drängende Fragen der Nachhaltigkeitspolitik austauschen kann, um hieraus sowohl wissenschaftspolitische wie nachhaltigkeitspolitische Schlüsse zu ziehen und Initiativen einzuleiten. Ich denke, durch meinen Aufenthalt ist es gelungen, in dem Projekt den Anspruch der konzeptionellen Ausrichtung auf den politischen Beratungsbedarf kontinuierlich präsent zu halten und entsprechende erste Initiativen der Wissenschaftsplattform praxisorientiert zu gestalten. Weil ich auch zuvor und künftig für die Seite des Umweltministeriums für diese Plattform zuständig bin, war die Zuweisung zum IASS auch keine „für sich stehende Aktion“, sondern in weiten Teilen eingebettet in einen langfristigen Rahmen. 

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Wir sollten uns nichts vormachen: Wissenschaft ist insgesamt näher an die Politik gerückt. Politikberatung ist nicht der idealtypisch gedachte lineare Prozess eines „truth speaks to power“.

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VdZ: Wie helfen Ihnen diese Erfahrungen nun weiter, wenn es darum geht, sich selbst und Ihr Ministerium im Umgang mit der Wissenschaft gut aufzustellen?

Mayer-Ries: Es ist u. a. hilfreich zu wissen, mit welcher Perspektive solche wissenschaftlichen Einrichtungen auf große Auftraggeber – wie eben das BMU und andere Ministerien – schauen. Was kann eine solche Einrichtung über Hintergründe und Abläufe nicht wissen? Welche Ansätze für Scope und Fragestellung, Methode, Lösungsraum werden vielleicht von Anfang an ausgeblendet, um vermutete Erwartungen der auftraggebenden Behörde nicht zu konterkarieren? Wir sollten uns nichts vormachen: Wissenschaft ist insgesamt näher an die Politik gerückt. Politikberatung ist nicht der idealtypisch gedachte lineare Prozess eines „truth speaks to power“; Politik wiederum nutzt natürlich passende wissenschaftliche Ergebnisse, um sich zu legitimieren. Ich sehe es zudem als Problem an, dass viele Konflikte, trade-offs, methodische Defizite, Bereiche von offenen Fragen und Nicht-Wissen auch im wissenschaftlichen Diskurs nicht als solche dargestellt bzw. relativiert werden. Falsifizierungsprinzip und Streitkultur hatten schon einmal einen höheren Stellenwert: sowohl Forscher untereinander als auch Politik und Wissenschaft sollten wieder mehr miteinander streiten.   

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Falsifizierungsprinzip und Streitkultur hatten schon einmal einen höheren Stellenwert: sowohl Forscher untereinander als auch Politik und Wissenschaft sollten wieder mehr miteinander streiten.  

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VdZ: Was war organisatorisch notwendig, um Ihrem Aufenthalt den Weg zu ebnen?

Mayer-Ries: BMU und IASS kooperieren immer wieder zu verschiedenen Themen, u. a. daher hatte ich auch zahlreiche Kontakte zur Leitung des IASS. Die anstehende Gründung der Wissenschaftsplattform führte dann zu Gesprächen auf beiden Seiten über meine Idee einer zeitweiligen Tätigkeit am Institut. Das IASS hat – in Rückkopplung mit seinen Trägern – daraufhin die Initiative ergriffen, mit einem Schreiben an die Hausleitung des BMU eine Zuweisung in Form eines Senior Fellowships vorgeschlagen und sich auf Basis einer vertraglichen Vereinbarung zwischen den beiden Häusern auch an der Finanzierung beteiligt.

VdZ: Existiert Ihres Wissens auch ein institutionalisiertes Austauschprogramm, das solche Aufenthalte ermöglicht?

Mayer-Ries: Ich kenne einige Kollegen in verschiedenen Ressorts, die etwa Lehraufträge an Hochschulen wahrnehmen und diese „begrenzten Ausflüge“ in die Wissenschaft vielleicht auch mit einem Sabbatical verbinden. Systematischere Programme existieren meines Wissens jedoch nicht.

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Attraktiv wären für alle Beteiligten ggf. Modelle, in denen Mitarbeiter zwei bis drei Tage pro Woche im Ministerium und die übrige Zeit in der Wissenschaft arbeiteten.  

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VdZ: Wie könnte Ihrer Sicht ein möglicher Rahmen aussehen, in dem Fachleute und Führungskräfte aus der Verwaltung eine Zeitlang in der Wissenschaft oder auch Wirtschaft verbringen?

Mayer-Ries: Neben klassischen Austauschprogrammen sind ja vielleicht auch Teilzeitprogramme denkbar. Attraktiv wären für alle Beteiligten ggf. Modelle, in denen Mitarbeiter zwei bis drei Tage pro Woche im Ministerium und die übrige Zeit in der Wissenschaft arbeiteten. Wenn das zu umfänglich erscheint, gibt es sicher heutzutage Möglichkeiten, etwa Forscher und Politiker oder Fachbeamte im Rahmen von Plan- und Simulationsspielen zueinander zu bringen. Anhand dessen könnten etwa jeweils mehrere Vertreter aus beiden „Lagern“ einige Wochen im Design Lab an einer bestimmten Aufgabe arbeiten.

Unabhängig von Forschungsvorhaben und insbesondere zu Anfang einer Legislatur könnte ein Austausch zwischen Politik und Wissenschaft förderlich sein.
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VdZ: Welche Ansätze „auf kleiner Flamme“ fallen Ihnen noch ein, um den Austausch „anzuheizen“?

Mayer-Ries: Sicherlich wäre mit „systematischen Gesprächen“ schon viel gewonnen. Ich denke dabei an einen Austausch, der unabhängig von Forschungsvorhaben zwischen Politik und Wissenschaft stattfindet. Das wäre insbesondere zu Anfang einer Legislatur förderlich, wenn die Bundesministerien ihre politischen Schwerpunkte, aber auch gleichsam „offene Fragen in Erwartung offener Antworten“ skizzieren können. Akteure aus der Wissenschaft könnten hier ihren Stand der Forschung darlegen – und zwar zu System- und Faktenwissen, zu Transformations- bzw. Prozesswissen und zu übergreifenden Orientierungsfragen. Darüber hinaus wären gemeinsame „Foresight-Prozesse“ sinnvoll, etwa mit einem Auftakt, bei dem man zu informellen kreativen Brainstormings zusammenkommt und sich dabei von der Wissenschaft Inputs zu perspektivisch möglicherweise relevanten Entwicklungen abholt!     

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Im BMU haben wir gemeinsam mit einem Forschungskonsortium nun bereits die zweite Version eines internen Strategie-Leitfadens erarbeitet und nahezu fertiggestellt.

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VdZ: Können Sie ein konkretes Beispiel eines solchen informellen Zusammenkommens nennen?

Mayer-Ries: Im BMU haben wir gemeinsam mit einem Forschungskonsortium nun bereits die zweite Version eines internen Strategie-Leitfadens erarbeitet und nahezu fertiggestellt. Dieser beleuchtet u. a. auch das „Innenleben“ der Strategie- und Programmentwicklung unseres Hauses und wertet die vielfältigen praktischen Erfahrungen in verschiedensten Fachabteilungen aus. Der Leitfaden wird für alle Behörden unseres Geschäftsbereichs nutzbar sein. In diesen Prozess haben wir auch Wissenschaftler punktuell in Strategiegespräche und -workshops eingebunden. Aktuell arbeiten wir ebenfalls wissenschaftsbasiert und mit Forschungspartnern an Kompetenzanforderungen und darauf gerichtete Nutzerprofile und Lernmodule, die auf transformatives Wissen in der Ministerialverwaltung abzielen.