Bundesgerichtshof
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Die Änderung der Vergabeunterlagen erzwingt den Verfahrensausschluss nicht mehr automatisch

Praxisrelevante Entscheidung des Bundesgerichtshof vom 18. Juni 2019

Oberste Grundregel für die Bieter in einem Vergabeverfahren ist die Vergleichbarkeit der Angebote. Daher gilt: Angebote, die die Vergabeunterlagen verändern oder ergänzen, sind von der Wertung auszuschließen. Rüttelt die neue Entscheidung des Bundesgerichtshof (BGH) vom 18. Juni 2019 (Az.: X ZR 86/17) an diesem Grundsatz?

Ausgehend von seinem Leistungsbestimmungsrechts gibt der öffentliche Auftraggeber den Beschaffungsgegenstand einseitig vor. Ähnlich determiniert der Auftraggeber die Verfahrensgestaltung und den Inhalt der Vergabeunterlagen, einschließlich der aus der Leistungsbeschreibung und den Vertragsbedingungen bestehenden Vertragsunterlagen (§ 29 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 VgV).

Bislang: Zwingender Angebotsausschluss bei Änderung der Vergabeunterlagen

Der Ausschlussgrund der Änderung der Vergabeunterlagen ist neben § 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV für Liefer- und Dienstleistungsaufträge in § 16 Nr. 2 VOB/A (EU) für Bauaufträge geregelt.

ieter dürfen die Vergabeunterlagen grundsätzlich nicht ändern, vgl. § 53 Abs. 7 VgV. Gemäß § 57 Abs.  1 Nr. 4 VgV sind Angebote zwingend von der Wertung auszuschließen, wenn die Vergabeunterlagen durch das Angebot des Bieters verändert oder ergänzt werden – und zwar vollkommen unabhängig davon, ob die Änderung nur geringfügig oder keine wettbewerbliche Relevanz hat. Nach der bislang einschlägigen Rechtsprechung sind Bieterangebote insbesondere dann vom weiteren Vergabeverfahren auszuschließen, wenn die Bieter ihren Angeboten vom Inhalt der Vergabeunterlagen abweichende unternehmenseigene Allgemeine Geschäftsbedingungen („AGB“) oder Begleitschreiben hinzufügen.

Der Angebotsausschluss wurzelt darin, dass die Bieter dem Auftraggeber mit den Änderungen ein Aliud zu der eigentlich ausgeschriebenen Leistung (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss v. 14. November 2012 – VII-Verg 42/12) anbieten. Damit fehlt es jedoch an der für die faire Angebotswertung unabdingbaren Vergleichbarkeit der Angebote.

BGH gibt tradierte Rechtsprechungspraxis auf

Mit Urteil vom 18. Juni 2019 hat der BGH allerdings für die Vergabe von Bauaufträgen entschieden, dass das Hinzufügen von abweichenden AGB nicht mehr zwingend zum Angebotsausschluss führt.  Der Entscheidung liegt eine Fallkonstellation zugrunde, in der der Bieter seinem Angebot Zahlungsmodalitäten hinzugefügt hatte („zahlbar bei Rechnungserhalt ohne Abzug“), die nicht mit den Vergabeunterlagen übereinstimmten („zahlbar innerhalb von 30 Kalendertagen“), obwohl er gleichsam erklärte, keine eigenen AGB zum Inhalt seines Angebots machen zu wollen. 

BGH: „…die vom Gedanken formaler Ordnung geprägte strenge Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs namentlich zur Handhabung der Ausschlussgründe ist entfallen.

Der öffentliche Auftraggeber hatte sich demgegenüber in den Vergabeunterlagen in einer sogenannten Abwehrklausel ausbedungen, dass abweichende Liefer-, Vertrags- und Zahlungsbedingungen des Auftragnehmers nicht Vertragsbestandteil werden.

Wegen der beigefügten AGB schloss der öffentliche Auftraggeber den Bieter vom weiteren Verfahren aus – zu Unrecht wie der BGH entschied. Denn die abweichende Zahlungsbedingung des Bieters sei – unabhängig von ihrer Qualifikation als AGB – nicht Vertragsbestandteil geworden. Die Abwehrklausel stehe einer Änderung der Vergabeunterlagen (durch abweichende Zahlungsbedingungen) entgegen. Für einen Ausschluss gemäß § 16 Nr. 2 VOB/A EU bestehe folglich kein Raum.

BGH: „Sehen die Vergabeunterlagen eines öffentlichen Auftraggebers vor, dass abweichende Erklärungen oder Unterlagen des Bieters oder dessen Vertragsbedingungen nicht Vertragsbestandteil werden, bleiben solche Abweichungen in Bieterunterlagen in der Regel folgenlos und führen nicht zum Ausschluss des Angebots wegen unzulässiger Änderungen an den Vergabeunterlagen.

Doch mehr noch: Nach Auffassung des BGH sei der Ausschluss vom Vergabeverfahren selbst ohne die Abwehrklausel rechtswidrig gewesen. Der öffentliche Auftraggeber hätte bestehende Widersprüche zwischen Angebot und Vergabeunterlagen zunächst im Wege der Angebotsaufklärung (§ 15 Abs. 1 Nr. 1 VOB/A EU) bereinigen müssen.

Identifiziert der öffentliche Auftraggeber Abweichungen oder Widersprüche, habe er nach Ansicht des BGH zu prüfen, ob nach Hinwegdenken dieser Abweichungen immer noch ein vollständiges Angebot vorliegt, das den Vorgaben der Vergabeunterlagen entspricht. Jedenfalls bei Streichung von bieterseitigen AGB dürfte grundsätzlich ein vollständiges Angebot vorliegen. Anders zu entscheiden sei in Fällen, in denen der Bieter absichtlich ein inhaltlich abweichendes Angebot abgebe und bei Hinwegdenken der Abweichungen ein lückenhaftes Angebot übrigbleibe. In solchen Fällen scheide eine Angebotsaufklärung aus.

Kontrollfrage: Liegt bei Hinwegdenken der Abweichungen immer noch ein vollständiges Angebot vor?

Hohe Praxisrelevanz der BGH-Entscheidung

Mit seinem neuerlichen Urteil kippt der BGH seine strenge Rechtsprechung zum Angebotsausschluss bei Änderungen der Vergabeunterlagen. Zwar lag der Entscheidung ein Bauvergabeverfahren zugrunde, doch gilt das Urteil ebenso für die Vergabe von Dienst- und Lieferleistungen, da § 16 Nr. 2 VOB/A EU dem § 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV entspricht.

Die Entscheidung darf nicht als „Freifahrtschein“ für die Bieterunternehmen interpretiert werden.

Das Verbot von Änderungen der Vergabeunterlagen findet als Ausfluss der Vergaberechtsgrundsätze des Wettbewerbs und der Gleichbehandlung verfahrensübergreifend Anwendung. Der Entscheidung des BGH kommt damit hohe Praxisrelevanz zu. Gleichsam gewinnt die Frage, ob die Änderung oder Ergänzung der Vergabeunterlagen zum Verfahrensausschluss führt, an Komplexität. Keinesfalls jedoch ist die BGH-Entscheidung dahingehend zu lesen, dass Bieter die Vergabeunterlagen durch eigene AGB oder sonstige Abweichungen frei verändern können, ohne hierdurch mit dem Angebotsausschluss sanktioniert zu werden. Die Bieter sind weiterhin in der Pflicht, die Kongruenz zwischen ihrem Angebot und den Vergabeunterlagen sicherzustellen. Sie müssen ein vollständiges Angebot abgeben.  

Für öffentliche Auftraggeber lässt sich verallgemeinernd folgendes festhalten:

1. Die objektive Abweichung von den Vergabeunterlagen rechtfertigt für sich genommen nicht mehr den automatischen Ausschluss von der Wertung.

2. Der Angebotsausschluss ist ultima ratio. Vorrangig ist eine Aufklärung durch den Auftraggeber.